Gestern beobachtete ich eine Kollegin dabei, wie sie methodisch Post-its von ihrem Tisch in unserem Design Thinking Space entfernte. Einige wanderten direkt in den Papierkorb, andere wurden sorgfältig in ihr Notizbuch übertragen. „Endlich aufräumen“, murmelte sie, während sie einen weiteren Zettel abzog, kurz las und dann zögerte. Dieser eine wanderte zurück auf den Tisch.
Die Beständigkeit des Flüchtigen
Es ist paradox: In einer Zeit, in der wir Zugriff auf unbegrenzte digitale Speichermöglichkeiten haben, vertrauen wir unsere wichtigsten Gedanken, Termine und Erinnerungen kleinen Zetteln an, die mit einem Windhauch verschwinden könnten. Vielleicht liegt es an der greifbaren Präsenz. Ein digitaler Reminder verschwindet in den Tiefen unserer To-Do-Apps. Aber dieser leuchtend gelbe Zettel? Er starrt uns an. Unnachgiebig. Bis wir handeln.
Ein anthropologischer Blick
Schauen Sie sich mal in Ihrem Büro um. Die Post-its erzählen Geschichten:
- Der zerknitterte Zettel mit der dringenden Telefonnummer
- Die ordentlich aufgereihten Projektnotizen
- Der halb abgefallene Reminder vom letzten Monat
- Das motivierende Zitat, das niemand abzunehmen wagt
Jeder dieser Zettel ist ein kleines Fenster in die Arbeitsweise, die Prioritäten und manchmal auch die Hoffnungen seiner Besitzer.
Das Geniale an Post-its ist nicht ihre Klebkraft. Es ist ihre Schwäche. Sie fallen ab. Sie vergilben. Sie zwingen uns zur Entscheidung: Ist diese Information noch relevant? Verdient sie es, neu geschrieben zu werden?
Wir haben Slack, Teams, Asana, Trello – und trotzdem: Die Post-its überleben. Warum? Vielleicht weil sie etwas können, was digitale Tools nicht können: Sie existieren im physischen Raum. Sie schaffen Territorium. Sie markieren unsere Arbeitsbereiche als persönlich, als lebendig, als in Bewegung.
In manchen Büros sind sie verpönt, „zu chaotisch“, heißt es dann, oder „unprofessionell.“ Aber schauen Sie genau hin: Oft sind es gerade die kreativsten, die produktivsten Teams, die ihre Wände mit Post-its tapezieren. Vielleicht sind Post-its mehr als nur Notizzettel. Vielleicht sind sie ein stiller Protest gegen die Digitalisierung allen Wissens. Eine Erinnerung daran, dass manche Gedanken Raum brauchen. Physischen Raum.
Werden Post-its überleben? Wahrscheinlich. Denn sie erfüllen ein zutiefst menschliches Bedürfnis: Das Bedürfnis, unsere Gedanken nicht nur zu speichern, sondern sie zu sehen, sie anzufassen, sie umzuordnen.
Das nächste Mal, wenn Sie einen dieser gelben Zettel in die Hand nehmen, halten Sie kurz inne. Dieser unscheinbare Papierschnipsel ist mehr als ein Notizzettel. Er ist ein Artefakt unserer Zeit. Ein Zeugnis unseres andauernden Versuchs, Ordnung ins Chaos zu bringen. Und manchmal, nur manchmal, ist es genau dieses kleine gelbe Quadrat, das den Unterschied macht zwischen „vergessen“ und „erledigt“.
Übrigens: Der Zettel, den meine Kollegin nicht wegwarf? „Mehr Post-its kaufen“ stand darauf.


